Plattformökonomie und Arbeitsrecht – Scheinselbstständigkeit im Erotiksektor

Verfasst von
Max Hortmann
09 Nov 2025
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Plattformökonomie und Arbeitsrecht – Scheinselbstständigkeit im Erotiksektor

1 Einleitung – Arbeit im Schatten der Plattformenll

Digitale Arbeit ist unsichtbar geworden. Sie entsteht nicht mehr am Schreibtisch, sondern in Dashboards, Ratings und Algorithmen.
Das gilt nirgendwo so radikal wie in der digitalen Intimitätsökonomie.

Ob Sugar-Dating, OnlyFans, Escort-Plattformen oder Virtual-Girlfriend-Dienste – die Arbeit der Creatorinnen und Performer ist formal selbstständig, faktisch aber eng durch Plattformstrukturen kontrolliert:
Algorithmische Steuerung ersetzt den Vorgesetzten, Ranking das Feedbackgespräch, Revenue-Share die Gehaltsabrechnung.

Das Ergebnis ist ein rechtliches Spannungsfeld:
Arbeiten Sexarbeiterinnen oder Content-Creator wirklich frei? Oder handelt es sich um scheinselbstständige Beschäftigung, die arbeits-, steuer- und sozialversicherungsrechtliche Konsequenzen auslöst?

Die Beantwortung dieser Frage betrifft nicht nur Einzelfälle, sondern die Architektur der gesamten Plattformökonomie.
Sie entscheidet darüber, ob Recht seine Schutzfunktion erfüllt oder von Algorithmen ersetzt wird.

Verfasst von Rechtsanwalt Max Nikolas Mischa Hortmann, Vertragsautor bei jurisAZO-ITR und jurisPR-ITR.

2 Rechtsrahmen – § 611a BGB, SGB IV und EU-Richtlinie Plattformarbeit

§ 611a Abs. 1 BGB definiert den Arbeitnehmer als Person, die zur weisungsgebundenen, fremdbestimmten Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet ist.
Die tatsächliche Durchführung des Vertrags, nicht seine Bezeichnung, entscheidet über den Status.

Nach § 7 SGB IV liegt Beschäftigung vor, wenn Arbeit nach Weisungen und in persönlicher Abhängigkeit verrichtet wird.
§ 7a SGB IV ermöglicht ein Statusfeststellungsverfahren bei der Deutschen Rentenversicherung – das wichtigste Präventionsinstrument gegen Scheinselbstständigkeit.

Das Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) normiert Registrierung und Gesundheitsberatung,
enthält aber keinen arbeitsrechtlichen Status. Es schützt Tätigkeiten, nicht Arbeitsverhältnisse.

Mit der EU-Platform Work Directive entsteht erstmals eine europaweite Beschäftigungsvermutung:
Liegt algorithmische Kontrolle über Arbeitseinsatz, Vergütung oder Verhalten vor, wird ein Arbeitsverhältnis vermutet.
Diese Vermutung müssen Plattformen widerlegen.

Das BAG-Urteil vom 1. Dezember 2020 (9 AZR 102/20 – „Crowdworker“)
hat diese Linie vorgezeichnet: Wer dauerhaft, weisungsgebunden und in ein digitales Steuerungssystem eingegliedert arbeitet, ist Arbeitnehmer – unabhängig von seiner Vertragsbezeichnung.

Daraus folgt: Plattformen im Erotiksektor können Arbeitgeber sein – auch wenn sie sich selbst als Vermittler verstehen.

3 Statusprüfung in der Praxis – Vom Profil zur Eingliederung

Die entscheidenden Indizien stammen aus der Praxis:

  • Weisungsrecht: Plattformen legen Zeiten, Content-Typen, Preise oder Hashtag-Nutzung fest.
  • Eingliederung: Creator arbeiten über ein zentrales Dashboard mit Rankings, Quoten, Boni.
  • Unternehmerisches Risiko: kaum vorhanden – Ausfallrisiko trägt die Plattform durch Sichtbarkeit und Algorithmussteuerung.
  • Auftreten: Inhalte werden im Plattform-Branding präsentiert, nicht unter eigener Marke.
  • Kontrolle: Strikes, Sperren, De-Ranking – digitale Disziplinarmaßnahmen.

In Summe ergibt das eine fremdbestimmte Eingliederung, die § 611a BGB erfüllt.
Die Beweisproblematik liegt in der Intransparenz der Algorithmen:
Die Steuerung erfolgt durch Code, nicht durch Menschen – aber mit denselben rechtlichen Effekten.

4 Scheinselbstständigkeit – Prüfprogramm und Folgen

Die Deutsche Rentenversicherung prüft nach fünf Hauptkriterien: Weisungsgebundenheit, Eingliederung, Unternehmerrisiko, Auftreten, Dauer.
Ergibt die Analyse ein faktisches Beschäftigungsverhältnis, folgen:

  • Sozialversicherungspflicht rückwirkend, inkl. Nachforderungen und Säumniszinsen (§ 28e SGB IV).
  • Lohnsteuerhaftung der Plattform (§ 42d EStG).
  • Mindestlohnpflicht (§ 1 MiLoG), Urlaubsansprüche, Entgeltfortzahlung, Kündigungsschutz.
  • Ordnungswidrigkeitenverfahren (§ 8 SchwarzArbG) bei systematischer Umgehung.

Scheinselbstständigkeit ist keine Bagatelle, sondern eine Haftungsfalle für Plattformen – finanziell, strafrechtlich, reputativ.

5 Vertragspraxis – AGB, Revenue-Share und Sperren

Die AGB-Kultur digitaler Plattformen verschleiert das Arbeitsverhältnis:
„Creator Agreement“, „Service Terms“ oder „Partner Program“ sind de facto Arbeitsordnungen.
Sie regeln Inhalte, Monetarisierung, Sperrungen, sogar Verhalten außerhalb der Plattform.

Nach §§ 305 ff. BGB unterliegen solche Klauseln der Kontrolle:
Unklare oder unangemessene Bedingungen – etwa willkürliche Sperrung oder exklusive Bindung – sind unwirksam.

Trinkgelder („Tips“) gelten steuerlich und arbeitsrechtlich als Entgelt, wenn sie systematisch Teil der Vergütung sind.
Pflichtzeiten („Slots“) oder Content-Quoten führen zur Anwendbarkeit des Arbeitszeit- und Mindestlohngesetzes.

Sperrt die Plattform Creator ohne Begründung, kann das einer fristlosen Kündigung gleichstehen – mit Schadensersatzansprüchen.

6 Arbeitsschutz & Compliance in digitalen Intimitätsmodellen

Der Arbeitsschutz hat die digitale Intimität noch nicht erreicht.
§ 5 ArbSchG verpflichtet Arbeitgeber zur Gefährdungsbeurteilung, auch psychischer Risiken.
Doch Plattformen argumentieren, sie seien keine Arbeitgeber.

Belastungen sind evident: sexualisierte Kommunikation, 24/7-Verfügbarkeit, KI-basierte Feedbackschleifen.
Das ProstSchG bietet Gesundheitsberatung, aber keinen Arbeitsschutz.
Das HinSchG (Whistleblower-Schutzgesetz) verpflichtet zur Meldung bei Ausbeutung oder Belästigung – auch digital.

Virtual-Girlfriend-Labs treiben das Prinzip auf die Spitze: KI-Feedback ersetzt Ruhezeiten;
„Algorithmischer Zwang“ – wer nicht streamt, verliert Sichtbarkeit.

7 Sozialversicherung & Künstlersozialkasse (KSK)

Die Einordnung als „Künstler“ (§ 1 KSVG) scheitert meist, weil Erotik-Content keine künstlerische Darbietung im engeren Sinn ist.
Nur wer kreative Eigenleistung erbringt – nicht bloße Selbstdarstellung – kann KSK-pflichtig sein.

Bei Scheinselbstständigkeit gelten die normalen SV-Pflichten.
Die Plattform trägt Arbeitgeberanteile, auch bei verspäteter Einstufung.
Das Statusfeststellungsverfahren (§ 7a SGB IV) ist strategisch sinnvoll:
Frühzeitige Klärung verhindert Nachforderungen und Bußgelder.

8 Internationale Dimension – Plattformsitz vs. Arbeitsort

Die meisten Erotik-Plattformen haben Sitz in Irland, Zypern oder den USA,
die Creator arbeiten in Deutschland.

Nach Art. 8 Rom-I-VO gilt das Recht des gewöhnlichen Arbeitsorts.
Damit findet deutsches Arbeitsrecht Anwendung, auch bei Auslandssitz der Plattform.

Art. 21 EuGVVO erlaubt Klage am Arbeitsort.
Urteile sind im EU-Raum vollstreckbar (Exequatur).
Praktisch erfolgt Zugriff über Zahlungsdienstleister – Sperrung oder Kontopfändung.

Der Vergleich mit der EU-Platform Work Directive zeigt:
Europa bewegt sich klar zur Beschäftigungsvermutung, UK folgt mit ähnlichen Standards (Uber-Urteil).

9 Steuer- und Beitragsrechtliche Querbezüge (Projekt 370)

Scheinselbstständigkeit ist kein isoliertes Arbeitsproblem, sondern ein Compliance-Cluster:
Wo Arbeitnehmerstatus festgestellt wird, folgen automatisch steuer- und SV-Folgen.

Projekt 370 beleuchtet den Datenfluss:
DAC7/DAC8-Meldungen koppeln Plattformdaten mit Steuer- und Rentenversicherungsakten.
So entsteht ein automatisierter Risikohinweis: „Creator-Profil + regelmäßige Einnahmen + keine Betriebsnummer = Verdachtsfall“.

FIU-Muster: regelmäßige Wallet-Zuflüsse, Splitting, Trinkgeld-Kaskaden.
Die Grenzen zwischen Arbeits-, Steuer- und Geldwäscherecht verwischen –
juristisch aber planbar: Status + Meldung = Rechtssicherheit.

10 Plattformverantwortung – DSA und arbeitsrechtliche Pflichten

Der Digital Services Act (DSA) betrifft auch Arbeitsbedingungen:
Plattformen müssen algorithmische Risiken dokumentieren und mitigieren (Art. 34 ff.).
Das umfasst auch Auswirkungen auf Beschäftigte – Ranking-Transparenz, De-Ranking, Moderationspraktiken.

Unter deutscher Perspektive kann Plattformarbeit betriebsratsfähig sein,
wenn eine organisatorische Einheit mit eigenem Management besteht.
Wer algorithmisch Arbeit steuert, übt faktisch Arbeitgeberfunktionen aus.

Damit entsteht eine neue Mitverantwortung:
Plattformen werden Co-Employer, sobald sie ökonomisch oder technisch Kontrolle ausüben.

11 Rechtsdurchsetzung – Strategie & Beweis

Statusfeststellungsklage (§ 2a ArbGG i.V.m. § 611a BGB):
Antrag auf Feststellung eines Arbeitsverhältnisses, gestützt auf Indizienkette:
Weisung, Eingliederung, Algorithmus, Kontrolle.

Beweisführung:
– AGB, Kommunikation, Dashboard-Screens, Sanktionen, Zahlungsverläufe.
– Eidesstattliche Versicherungen anderer Creator.
– Hash-Verfahren für digitale Dokumentation.

Kombinationsklagen: Arbeitsrechtliche Ansprüche (Lohn, Urlaub) + Datenschutz (Art. 82 DSGVO).
Ziel: Anerkennung + Nachzahlung + Feststellung.

12 Gesellschaftliche und rechtspolitische Bewertung

Erotikarbeit ist Arbeit. Doch Plattformlogiken verschleiern diesen Tatbestand.
Das ProstSchG schützt öffentliche Interessen, nicht Arbeitskraft;
das Arbeitsrecht schützt Beschäftigte, nicht „Performer“.
Hier entsteht ein Schutzvakuum.

Erforderlich ist:

  • Beschäftigungsvermutung bei algorithmischer Steuerung.
  • Transparenzpflicht über Ranking- und Sperrmechanismen.
  • Mitbestimmungsrechte digital Beschäftigter.
  • Arbeitszeit- und Gesundheitsschutz auch für digitale Intimität.

Der Staat darf keine digitale Klasse von Arbeitslosen-Arbeitenden dulden.

13 Fazit

§ 611a BGB bleibt Prüfstein der Plattformarbeit.
Wer algorithmisch gelenkt, sanktioniert und vergütet wird, ist nicht frei, sondern abhängig.
Scheinselbstständigkeit ist im Erotik- und Companion-Segment strukturell, nicht zufällig.
Das Recht muss Arbeits-, Sozial-, Steuer- und Plattformrecht verbinden,
um Menschen im System zu schützen, nicht nur Daten.

Recht ist nicht die Bremse der Digitalisierung, sondern ihre ethische Architektur.

14 Fundstellen

  1. BAG, Urt. v. 1.12.2020 – 9 AZR 102/20 (Crowdworker).
  2. ErfK/Preis, § 611a BGB Rn. 13 ff.
  3. jurisPK-Internetrecht 8. Aufl. 2024, Kap. Plattformarbeit.
  4. SGB IV §§ 7, 7a.
  5. MiLoG, ArbZG, BUrlG, EFZG.
  6. ProstSchG 2017.
  7. EU Platform Work Directive (Stand 2025).
  8. Rom-I/II, EuGVVO.
  9. DAC7/DAC8, PStTG.
  10. Projekt 370 – Hortmann 2025.

Honey-Trap 2.0 – The Times, NDTV und andere Medien warnen vor neuer Form digitaler Spionage
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Klage bei Täuschung im Sugar-Dating – Wann Sie rechtlich gegen Fake-Beziehungen vorgehen können
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Klage gegen die Bank bei Love-Scam, Krypto- und Anlagebetrug – Gerichtspraxis statt Theorie
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Klage gegen Crypto.com & Co: Wie Opfer von Krypto-Betrug, Bitcoin- und Love-Scam-Fällen vor Gericht Erfolg haben
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Love Scam und Crypto.com – Haftet die Plattform trotz AGB? Anwalt hilft Opfern
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Love Scam und Opferrechte – Schadensersatz, Nebenklage, psychologische Hilfe
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Love Scam: Künstliche Intelligenz und Chatbots als Täuschungswerkzeug
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MySugardaddy Betrug mit Vorauszahlung – PayPal, Amazon-Gutschein oder Sofortüberweisung erkennen
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MySugardaddy – Körperlicher Kontakt & Abenteuer/Spaß gegen Geld-TG oder Darlehen: Wann Geld zurückgefordert werden kann
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Scamming: PayPal-Betrug und Dating-Scams
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Sugar-Dating Erpressung
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Zivilklage gegen Love-Scammer – Ablauf, Versäumnisurteil und Erfolgschancen

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Max Hortmann
Rechtsanwalt
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