Wenn Unternehmen Betroffene verantwortlich machen: Rechenschaftspflicht erklärt
Verfasst von
Max Hortmann
13 Nov 2025
•
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Rechenschaftspflicht nach Art. 5 Abs. 2 DSGVO: Struktur, Nachweislast und Folgen unzureichender Dokumentation
I. Einleitung: Die Rechenschaftspflicht als tragende Säule der DSGVO
Die Rechenschaftspflicht aus Art. 5 Abs. 2 DSGVO verpflichtet Verantwortliche, nicht nur sämtliche Datenschutzgrundsätze einzuhalten, sondern diese Einhaltung jederzeit nachweisen zu können. Damit unterscheidet sich die DSGVO grundlegend von früheren Datenschutzregimen. Sie arbeitet nicht primär mit externen Kontrollen, sondern auferlegt dem Verantwortlichen eine permanente, nachweisbare Selbstkontrolle.
Viele Verstöße gegen die DSGVO beruhen nicht auf klaren Rechtsverletzungen im engeren Sinne, sondern auf fehlender oder unzureichender Dokumentation. Die Rechtsprechung — insbesondere das FG Berlin-Brandenburg, das Thüringer Finanzgericht und das FG Schleswig-Holstein — zeigt, dass fehlende Dokumentation als eigenständiger Verstoß gilt.
Auch der EuGH hebt in C-340/21 hervor, dass Verantwortliche jederzeit den Nachweis erbringen müssen, dass Prozesse, Strukturen und technische Maßnahmen DSGVO-konform aufgebaut sind. Die Rechenschaftspflicht ist daher nicht ein rein administratives Element, sondern die rechtliche Grundvoraussetzung für jede Verarbeitung personenbezogener Daten.
II. Rechtlicher Rahmen: Art. 5 Abs. 2 DSGVO und seine systematische Einordnung
1. Inhalt und Bedeutung des Art. 5 Abs. 2 DSGVO
Art. 5 Abs. 2 DSGVO verpflichtet den Verantwortlichen, die Einhaltung der in Art. 5 Abs. 1 DSGVO genannten Grundsätze nachzuweisen. Dazu gehören:
Rechtmäßigkeit,
Verarbeitung nach Treu und Glauben,
Transparenz,
Zweckbindung,
Datenminimierung,
Richtigkeit,
Speicherbegrenzung,
Integrität und Vertraulichkeit.
Damit verpflichtet Art. 5 Abs. 2 DSGVO den Verantwortlichen zu einer doppelten Struktur:
Einhaltung der Grundsätze
Nachweisbarkeit der Einhaltung
Fehlt der Nachweis, ist der Verstoß gegeben.
2. Verbindung zu Art. 24 DSGVO
Art. 24 DSGVO operationalisiert die Rechenschaftspflicht. Verantwortliche müssen geeignete technische und organisatorische Maßnahmen (TOM) implementieren, dokumentieren und fortlaufend anpassen.
Das LG Wuppertal betont, dass Organisationsfehler regelmäßig Verstöße gegen Art. 24 DSGVO darstellen — unabhängig davon, ob konkrete Schäden eingetreten sind.
3. Verbindung zu Art. 30 DSGVO (Verzeichnis der Verarbeitungstätigkeiten)
Das Verzeichnis aller Verarbeitungstätigkeiten ist ein zentrales Instrument der Rechenschaftspflicht.
Das FG Berlin-Brandenburg hat klargestellt, dass ein unvollständiges oder unzutreffendes Verzeichnis ein eigenständiger Verstoß gegen die DSGVO ist.
4. Verbindung zu Art. 32 DSGVO (Sicherheit der Verarbeitung)
Die Rechtsprechung (LG Baden-Baden, OVG Hamburg) betont, dass fehlende Nachweise zur Sicherheit einer Verarbeitung regelmäßig Art. 32 verletzt.
III. Typische Dokumentations- und Rechenschaftsfehler in der Praxis
1. Fehlende oder unvollständige Verzeichnisse nach Art. 30 DSGVO
In zahlreichen Organisationen sind Verarbeitungsverzeichnisse:
unvollständig,
veraltet,
nicht strukturiert,
nicht angepasst an reale Datenflüsse.
Dies führt zu einer fehlenden Systemübersicht, die das FG Berlin-Brandenburg konsequent als Verstoß einstuft.
2. Unklare oder fehlende Rollen- und Berechtigungskonzepte
Zugriffsberechtigungen müssen klar definiert und dokumentiert werden. Fehlt die Dokumentation, kann:
nicht festgestellt werden, wer zu welchem Zeitpunkt Zugriff hatte,
keine Kontrolle durch Aufsichtsbehörden erfolgen,
die Einhaltung von Art. 32 DSGVO nicht belegt werden.
3. Fehlende Protokollierung
Viele Systeme enthalten:
keine Zugriffsprotokolle,
keine Änderungsprotokolle,
keine Löschprotokolle,
keine Übertragungshistorien.
Dies widerspricht der Rechtsprechung, die betont, dass technische Nachweisbarkeit ein Kernelement der DSGVO ist.
4. Speicherung personenbezogener Daten ohne nachvollziehbare Entscheidungsgrundlage
Art. 5 Abs. 1 lit. e DSGVO verlangt Speicherbegrenzung. Fehlt ein Löschkonzept oder ist es nicht dokumentiert, ist der Verstoß gegeben.
5. Fehlende Risikoanalysen
Art. 24 und 32 DSGVO verlangen fortlaufende Risikoanalysen. Fehlt die Dokumentation einer Risikoanalyse, wird regelmäßig ein struktureller Verstoß angenommen.
6. Mangelhafte Umsetzung von Privacy by Design (Art. 25 DSGVO)
Die fehlende Dokumentation der technischen Konzeption des Systems ist ein Indikator für fehlende Datenschutzintegration.
IV. Dogmatische Bewertung: Warum unzureichende Dokumentation rechtswidrig ist
1. Dokumentation ist kein „Beweismittel“, sondern ein Pflichtbestandteil
Die DSGVO sieht Dokumentation nicht als Beweiserleichterung, sondern als eigenständige gesetzliche Verpflichtung. Der EuGH stellt klar, dass Verantwortliche den Nachweis der DSGVO-Compliance jederzeit erbringen können müssen.
2. Keine Umkehr der Rechenschaftspflicht
Betroffene müssen keine Verstöße nachweisen. Die Pflicht zur Darstellung liegt vollständig beim Verantwortlichen.
selbstständige Verstöße darstellen, auch wenn die Verarbeitung selbst korrekt gewesen wäre.
4. Der Kontrollverlust als Rechtsverletzung
Fehlt die Dokumentation, kann der Betroffene seine Rechte nicht wirksam ausüben. Dies wurde in mehreren Entscheidungen (LG Leipzig, LG Bonn, OLG Frankfurt) als immaterieller Schaden nach Art. 82 DSGVO anerkannt.
V. Folgen für Betroffene
Betroffene können ohne transparente Dokumentation nicht nachvollziehen:
welche Daten existieren,
wie sie verarbeitet werden,
wer Empfänger ist,
wie lange Daten gespeichert werden,
ob Daten gelöscht wurden,
ob Daten weitergegeben wurden.
Dies führt zu struktureller Intransparenz und behindert die Geltendmachung von Rechten nach Art. 15–21 DSGVO.
Die Rechtsprechung erkennt diese Lage als immateriellen Schaden an.
VI. Folgen für Verantwortliche
1. Schadensersatz nach Art. 82 DSGVO
Fehlende Rechenschaftsstrukturen führen regelmäßig zu Schadensersatzansprüchen.
2. Bußgelder nach Art. 83 DSGVO
Aufsichtsbehörden sehen die Rechenschaftspflicht als Kernnorm. Verstöße werden hart sanktioniert.
3. Organisationsverschulden nach Art. 24 DSGVO
Fehlende Dokumentation ist ein Indikator für unzureichende Organisation. Gerichte wie LG Wuppertal sehen darin einen klaren Verstoß.
4. Strukturelle Compliance-Risiken
Organisationen riskieren:
ineffiziente Prozesse,
unvollständige Auskünfte,
fehlerhafte Löschkonzepte,
nicht kontrollierbare Datenflüsse.
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VII. Anforderungen an eine DSGVO-konforme Rechenschaftsstruktur
Ein wirksames Modell zur Umsetzung der Rechenschaftspflicht muss folgende Elemente enthalten:
Aktuelle Verarbeitungstätigkeiten nach Art. 30 DSGVO – vollständig, präzise, strukturiert.
Zugriffs- und Änderungsprotokolle – technische Nachvollziehbarkeit sämtlicher Vorgänge.
Dokumentierte Risiko- und Schutzmaßnahmen – regelmäßige Aktualisierung.
Berechtigungs- und Rollenmodelle – klare Definition und Überprüfung.
Löschkonzepte und Speicherbegrenzungen – nachweisbare Umsetzung.
Regelmäßige Audits – internes und externes Monitoring.
Diese Anforderungen entsprechen der Rechtsprechung von EuGH, LG Wuppertal, FG Berlin-Brandenburg, OVG Hamburg und weiteren Fachgerichten.
VIII. Handlungsempfehlungen für Betroffene
Betroffene sollten:
im Rahmen von Auskunftsersuchen präzise Angaben zur Dokumentation verlangen,
insbesondere nach Empfängern, Speicherfristen, Herkunft und Protokollen fragen,
bei fehlenden oder unklaren Angaben nachfassen,
Verstöße bei Aufsichtsbehörden melden,
Schadensersatz prüfen lassen, wenn strukturelle Transparenzmängel vorliegen.
IX. Schlussbetrachtung
Die Rechenschaftspflicht ist der Dreh- und Angelpunkt der DSGVO. Sie bestimmt nicht nur die Einhaltung der Grundsätze, sondern gibt den Rahmen für alle technischen und organisatorischen Maßnahmen vor. Fehlt die Dokumentation, ist die Verarbeitung nicht DSGVO-konform — unabhängig von der materiellen Rechtslage. Die Rechtsprechung hat klar gemacht, dass die Nachweislast vollständig beim Verantwortlichen liegt und Dokumentationslücken als eigenständige Verstöße bewertet werden.
Organisationen müssen daher robuste, nachweisbare und fortlaufende Strukturen entwickeln, die sowohl technische als auch organisatorische Anforderungen erfüllen.
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