Staatliche Kontrolle endet an digitalen Grenzen – Der Schattenmarkt digitaler Sexarbeit und das Regulierungsversagen
Verfasst von Rechtsanwalt Max Nikolas Mischa Hortmann, Vertragsautor bei jurisAZO-ITR und jurisPR-ITR.
1 Einleitung – Der unsichtbare Markt der Nähe
Die digitale Sexarbeit ist längst zu einem globalen Markt geworden – technisch greifbar, rechtlich kaum fassbar.
Plattformen operieren grenzüberschreitend, Zahlungen erfolgen über Kryptowährungen, Inhalte liegen auf verteilten Servern in Drittstaaten.
Was im nationalen Straf- oder Gewerberecht noch erfassbar war, entzieht sich im digitalen Raum jeder territorialen Logik.
Während Staaten über Registrierungspflichten, Steuertransparenz (DAC7/DAC8) und MiCA-Regulierung versuchen, Kontrolle zurückzugewinnen, expandiert ein Schattenmarkt, der auf Anonymität, Dezentralität und fehlender Rechtsdurchsetzung beruht.
Die Folge: Zwischen staatlicher Überforderung, technischer Komplexität und fehlender Kooperation entsteht ein digitales Niemandsland – ein rechtsfreier Markt für Nähe.
2 Fehlende Territorialität und globale Reichweite
Die digitale Ökonomie der Intimität funktioniert ohne Grenzen.
Server stehen in Irland, Betreiber in Zypern, Kunden in Japan, Creator in Deutschland.
Das Territorialitätsprinzip des Strafrechts (§ 3 StGB) stößt hier an seine strukturelle Grenze.
Wie Marcel Dickow und Nawid Bashir (Parl Beilage 2016, 15 ff.) betonen, lässt sich staatliche Kontrolle im Cyberspace nur über internationale Normsetzung und technische Kooperation verwirklichen.
Doch Plattformen nutzen genau diese Fragmentierung:
- Sie verlagern juristische Sitze in Niedrigregulierungszonen.
- Sie wählen Zahlungsabwickler in Drittländern.
- Sie verschleiern Eigentümerstrukturen über Holding-Ketten.
So entsteht ein Markt, der faktisch global agiert, rechtlich aber lokal ungreifbar bleibt.
Gerade die Sexarbeit nutzt diese juristische Asymmetrie: Sie profitiert von der Unmöglichkeit, digitale Räume wie physische Märkte zu kontrollieren.
3 Regulierungsdefizite – der Flickenteppich nationaler Gesetze
Die Regulierung digitaler Märkte ist fragmentiert und unsynchronisiert.
Arconada Valbuena / Rennar (PStR 2024, 231) zeigen, dass selbst innerhalb der EU Meldepflichten und Sanktionsrahmen divergieren.
Das Ergebnis: Ein regulatorischer Flickenteppich, der Forum Shopping begünstigt.
- USA: SESTA-FOSTA kriminalisiert Plattformen umfassend.
- EU: Der Digital Services Act (DSA) etabliert Pflichten zur Inhaltskontrolle, aber ohne arbeits- oder steuerrechtliche Verzahnung.
- Deutschland: setzt auf allgemeine Gesetze (ProstSchG, StGB, DSGVO), aber ohne digitale Spezifika.
Michael Deichsel und Michael Petritz (SWI 2021, 201 ff.) betonen, dass weder DAC8 noch MiCA gezielt auf die Sexarbeit zugeschnitten sind.
Sie erhöhen zwar Transparenz im Finanzsektor, lassen aber gesellschaftliche Risikobereiche unberührt.
Der Effekt: Kontrolle bleibt reaktiv, nicht präventiv.
Das Strafrecht reagiert nach Vollzug, das Steuerrecht nach Veranlagung, der Datenschutz nach Verletzung.
4 Technologische Herausforderungen – Krypto, Dezentralität und forensische Grenzen
4.1 Kryptowährungen als Anonymitätsverstärker
Kryptowährungen sind das Rückgrat des Schattenmarkts digitaler Sexarbeit.
Sie ermöglichen Transaktionen außerhalb klassischer Zahlungsnetzwerke, ohne Bankaufsicht und nahezu ohne Dokumentationspflicht.
Janina Schuh (Kriminalistik 2024, 438 ff.) weist darauf hin, dass Krypto-Wallets als Standardzahlungsmittel bei Online-Plattformen eingesetzt werden – insbesondere, wenn Anbieter und Kunden regionale Zahlungssperren umgehen.
Das führt zu einem Markt, der faktisch nicht mehr aufspürbar ist.
4.2 Blockchain-Analyse – Grenzen digitaler Forensik
Blockchain-Forensik ermöglicht zwar Rückverfolgung, aber keine Identifikation.
Tools wie GraphSense (IWW 2022, 243) oder Chainalysis können Zahlungsströme sichtbar machen, aber nicht Personen eindeutig zuordnen.
Arconada Valbuena / Rennar (StBp 2024, 329 ff.) nennen dieses Paradox die „transparente Intransparenz“:
Jede Transaktion ist öffentlich, doch ihr Absender bleibt verborgen.
4.3 Dezentralisierte Plattformen (Web3)
Neue Plattformmodelle basieren auf Smart Contracts und DAO-Strukturen.
Hier existiert kein Betreiber, kein Server, kein Anknüpfungspunkt.
Damit versagt das herkömmliche Aufsichtsmodell vollständig:
kein Ansprechpartner, keine Verantwortlichkeit, keine Vollstreckung.
5 Fehlende internationale Zusammenarbeit – ein strukturelles Problem
Amandine Torikian-Tomassian (CCZ 2022, 111 ff.) betont, dass Cybercrime und Geldwäsche nur international bekämpft werden können.
Doch gerade bei der digitalen Sexarbeit fehlt es an Kooperationsmechanismen zwischen Finanz-, Datenschutz- und Strafverfolgungsbehörden.
Beispiele:
- Interpol und Europol betreiben getrennte Datenbanken, ohne standardisierte Schnittstellen.
- Nationale FIUs melden Verdachtsfälle, aber ohne systematische Rückmeldung.
- Datenschutzaufsichtsbehörden sind institutionell getrennt von Finanzaufsicht und Strafverfolgung.
Das Ergebnis: Ermittlungen verlaufen asynchron.
Der Schattenmarkt nutzt diese institutionelle Trägheit als Infrastruktur.
6 Schattenökonomie – Parallelmärkte und systemische Effekte
6.1 Der graue Markt zwischen Legalität und Verdeckung
Digitale Sexarbeit oszilliert zwischen Legalität und Schattenökonomie.
Viele Anbieter sind registriert, versteuern Einnahmen, akzeptieren aber auch anonyme Zahlungen.
Plattformen profitieren doppelt: Sie erzielen Umsatz, ohne vollständige Verantwortung für die Arbeitsverhältnisse oder die Zahlungsflüsse zu übernehmen.
6.2 Steuervermeidung und Geldflüsse
Arconada Valbuena / Rennar (PStR 2024, 231 ff.) zeigen, wie Plattformen Einnahmen fragmentieren:
- Verlagerung der Zahlungskanäle in Drittstaaten.
- Nutzung von Stablecoins zur Liquiditätssteuerung.
- Weiterleitung an Zwischendienstleister („Payment Hubs“).
Diese Konstruktionen machen klassische Finanzaufsicht wirkungslos.
DAC8 wird Transparenz nur dann schaffen, wenn auch Plattform-Marketplaces und Token-Systeme unter die Berichtspflichten fallen.
6.3 Gesellschaftliche Folge: Unsichtbare Arbeit, sichtbare Gewinne
Die Gewinne der Plattformen wachsen, während Arbeiter*innen in prekären Strukturen bleiben.
Arbeitsrechtliche Pflichten (Mindestlohn, Sozialversicherung) werden umgangen.
Das Steueraufkommen sinkt, während Schattenwirtschaft und Ausbeutung zunehmen – ein Effekt, den Deichsel/Petritz (SWI 2021, 201 ff.) als „digitale Entstaatlichung“ beschreiben.
7 Regulierungsversagen – Fragmentierung als Risiko
Der Staat reguliert zu langsam und zu sektoral.
- Strafrecht: veraltet und territorial.
- Steuerrecht: reaktiv, nicht proaktiv.
- Datenschutz: formell, aber nicht operativ.
- Plattformrecht: generisch, aber nicht spezialisiert.
Die Folge: Kein kohärenter Regulierungsrahmen für digitale Intimitätsmärkte.
Politische Zuständigkeiten sind verteilt, die Verantwortung verschwimmt.
Die EU-Maßnahmen (DSA, DAC8, MiCA) sind erste Schritte – doch sie bleiben querschnittsunverbunden.
Es fehlt die Verknüpfung von Straf-, Steuer-, Arbeits- und Plattformrecht zu einem integrierten Kontrollsystem.
8 Reformbedarf – von der Reaktion zur Architektur
Die Kontrolle digitaler Sexarbeit erfordert einen architektonischen Regulierungsansatz:
- Transnationale Koordination: Gemeinsame Ermittlungsdatenbanken, standardisierte Schnittstellen, einheitliche Auskunftsrechte für Strafverfolgungs- und Finanzbehörden.
- Regulierung dezentraler Plattformen: Smart-Contract-Governance, Haftungsregime für DAO-Entwickler.
- Verzahnung der Rechtsmaterien: Plattformpflichten (DSA) + Finanzaufsicht (MiCA) + Steuertransparenz (DAC8) + Arbeitsrecht (Platform Work Directive).
- Technische Aufsicht: EU-weite Blockchain-Forensik-Stellen, interoperable Tools (GraphSense, Chainalysis).
- Digitaler Opferschutz: Sofortmaßnahmen zur Datenlöschung, Kontensperrung, Rückverfolgung illegaler Zahlungen.
Nur durch Integration statt Addition lässt sich der Schattenmarkt begrenzen.
9 Fazit – Der Rechtsstaat an der digitalen Grenze
Die staatliche Kontrolle endet dort, wo Territorium in Daten zerfällt.
Der Schattenmarkt digitaler Sexarbeit ist Ausdruck einer systemischen Entkopplung von Recht, Technik und Ökonomie.
Nationalstaatliche Instrumente greifen zu kurz, internationale zu spät, technologische zu selektiv.
Was fehlt, ist keine neue Norm, sondern vernetzte Governance:
Regulierung, die Datenräume, Finanzströme und Arbeitsbeziehungen als Einheit begreift.
Nur so lässt sich der digitale Raum wieder in den Geltungsbereich des Rechts zurückholen.
Recht ist nicht die Bremse der Digitalisierung, sondern ihre ethische Architektur.
Fundstellen
- Dickow / Bashir, Sicherheit im Cyberspace, Parl Beilage 2016, 15–20.
- Arconada Valbuena / Rennar, Meldepflicht: Steuerstrafrechtliche Implikationen zur steuerlichen Notifikationspflicht nach DAC7, PStR 2024, 231–235.
- Torikian-Tomassian, Bekämpfung der kriminellen Verwendung von Kryptowährungen, CCZ 2022, 111–116.
- Deichsel / Petritz, Krypto-Assets im Fokus der EU, SWI 2021, 201–205.
- Arconada Valbuena / Rennar, Aktuelle Entwicklungen zum Umgang mit Krypto-Assets, StBp 2024, 329–334.
- Schuh, Kryptowährung, Geldwäsche, Internetkriminalität, Kriminalistik 2024, 438–442.
- IWW Institut, Überwachen des Darknets – Durchleuchten von Krypto-Zahlungen, PStR 2022, 243.
🩸 Beiträge im Überblick
1️⃣ Digitale Prostitution und Plattformhaftung – rechtliche Grauzonen im Netz
Wie Plattformen rechtliche Verantwortlichkeiten verschieben und wann Moderation zur Beihilfe wird.
2️⃣ AI-Avatare und virtuelle Sexarbeit – zwischen Kunstfreiheit und Pornografiegesetz
Künstliche Identitäten, Deepfakes und die Frage, ob virtuelle Erotik Kunst oder Sexarbeit ist.
3️⃣ OnlyFans, FanCentro & Co. – steuerliche Behandlung digitaler Sexarbeit
Wie Einnahmen aus digitaler Intimität steuerlich einzuordnen sind – von Einkommensteuer bis Umsatzsteuer.
4️⃣ Datenschutz und Intimsphäre – Art. 9 DSGVO als Schutzschild oder Feigenblatt?
Wenn intime Daten zum Geschäftsmodell werden – Grenzen des Datenschutzes in der Sexarbeit.
5️⃣ Digitale Prostitution vs. Love Scamming – Täuschung, Einwilligung und Ausnutzung
Wie emotionale Manipulation ökonomische Abhängigkeit schafft – und wann Strafbarkeit beginnt.
6️⃣ Plattformökonomie und Arbeitsrecht – Scheinselbstständigkeit im Erotiksektor
Selbstständigkeit oder abhängige Beschäftigung? Arbeitsrechtliche Grenzen digitaler Sexarbeit.
7️⃣ Strafrechtliche Verantwortung – von der Förderung zur digitalen Zuhälterei
§ 181a StGB im Zeitalter der Plattformökonomie: Wer trägt strafrechtliche Verantwortung?
8️⃣ Digitale Prostitution im internationalen Kontext – Regulierung in EU, USA, Asien
Rechtsvergleich zwischen Liberalisierung, Plattformverbot und digitaler Überwachung.
9️⃣ Digitale Sexarbeit und Steuerfahndung – Geldwäsche und Krypto-Zahlungen
Wie Finanzbehörden digitale Einnahmen nachvollziehen – und wann der Verdacht auf Geldwäsche entsteht.
🔟 Digitale Prostitution als Schattenmarkt – Kontrollverlust des Staates
Warum bestehende Gesetze an der digitalen Realität scheitern – und welche Reformen nötig sind.
🔹 Cluster II – Sugar-Dating & Sugar-Babe-Prostitution
Juristische Analysen zur rechtlichen Einordnung von Sugar-Arrangements, Datenschutz, Steuerrecht und Strafbarkeit.
Diese Serie untersucht die Grauzone zwischen Beziehung und entgeltlicher Leistung – von emotionaler Abhängigkeit bis Plattformhaftung.
💎 Beiträge im Überblick
1️⃣ Sugar-Daddy-Plattformen und rechtliche Bewertung – Zwischen Beziehung und Bezahlung
Wie digitale Plattformen Beziehungen monetarisieren – und wo das Zivilrecht Grenzen zieht.
2️⃣ Vertrag oder Täuschung? – Zivilrechtliche Einordnung von Sugar-Arrangements
Zwischen Einvernehmen und Irreführung – wann eine Beziehung zur vertraglichen Leistung wird.
3️⃣ Steuerrechtliche Bewertung – Liebesbeziehung oder gewerbliche Tätigkeit?
Wie Finanzämter Sugar-Arrangements einordnen – und welche steuerstrafrechtlichen Risiken bestehen.
4️⃣ Datenschutz und Intimsphäre – Art. 9 DSGVO bei Sugar-Daddy-Daten
Intime Informationen als Risikofaktor – Datenschutzrechtliche Grenzen der Vermittlungsportale.
5️⃣ Täuschung, Abhängigkeit und Nötigung – Strafbarkeit digitaler Sugar-Beziehungen
Wann emotionale und ökonomische Abhängigkeit zur Strafbarkeit führt.
6️⃣ Plattformhaftung und Vermittlungsverantwortung – digitale Zuhälterei 2.0
Grenzen der Betreiberhaftung nach § 181a StGB im digitalen Raum.
7️⃣ Finanzielle Abhängigkeit und emotionale Erpressung – Sugar-Babe als Opferstruktur
Wie Abhängigkeit systematisch entsteht – und welche Rechtsfolgen sie auslöst.
8️⃣ Arbeitsrechtliche Einordnung – Beschäftigung, Selbstständigkeit oder Schutzlücke?
Wann Sugar-Beziehungen arbeitsrechtlich relevant werden – eine Analyse nach § 611a BGB.
9️⃣ Internationale Dimension – Regulierung digitaler Sugar-Dating-Portale
Wie EU und USA unterschiedlich reagieren – und wo Deutschland steht.
🔟 Gesellschaftliche und rechtspolitische Bewertung – Sugar-Dating als Normalisierung digitaler Abhängigkeit
Warum Sugar-Dating mehr ist als ein Beziehungsphänomen – und was es über digitale Machtverhältnisse verrät.