Vergleich internationaler Gesetze zu digitaler Sexarbeit – Von DSA bis SESTA-FOSTA: wo Deutschland zurückliegt
Verfasst von Rechtsanwalt Max Nikolas Mischa Hortmann, Vertragsautor bei jurisAZO-ITR und jurisPR-ITR.
1 Einleitung – Digitale Intimität zwischen Markt, Schutz und Zensur
Digitale Sexarbeit ist kein Randphänomen, sondern ein globaler Markt: Profile, Abonnements, Private-Chats, Livestreams und Payment-Interfaces bilden eine Plattformökonomie der Nähe. Rechtsordnungen reagieren darauf mit sehr unterschiedlichen Modellen: Die EU versucht mit dem Digital Services Act (DSA) ein ausgewogenes Regime zwischen Haftung, Transparenz und Grundrechten zu etablieren; die USA haben mit SESTA-FOSTA ein stark strafrechtszentriertes Instrument geschaffen, das Plattformen in die Nähe der Täter rückt; Deutschland verweist auf das Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG), den allgemeinen Straf- und Arbeitsrechtsschutz – und überlässt die digitale Dimension weitgehend allgemeinen Normen.
Dieser Beitrag arbeitet die systemischen Unterschiede heraus und zeigt, wo Deutschland zurückliegt: (1) in der arbeitsrechtlichen Erfassung plattformvermittelter Intimitätsarbeit, (2) in der sozialversicherungsrechtlichen Integration von digitaler Sexarbeit und (3) in der klaren Plattformverantwortung für Risiko- und Missbrauchsmanagement. Der Befund: Zwischen Überkriminalisierung (SESTA-FOSTA) und Fragmentierung (DE) zeichnet sich die DSA-Logik als der rechtsstaatlich belastbarere Mittelweg ab.
2 Europäische Union – Der Digital Services Act (DSA) als Grundgerüst
Der DSA adressiert plattformbasierte Risiken technologieneutral: Er schafft Sorgfaltspflichten (Notice-and-Action, Beschwerdewege, Transparenzberichte) und – für sehr große Online-Plattformen – Risikoanalysen, Audits, Algorithmustransparenz und Krisenreaktionsmechanismen. Für digitale Sexarbeit bedeutet das:
- Illegalitätsmanagement statt Inhaltsstrafrecht: Plattformen müssen Melde- und Abhilfeprozesse vorhalten, missbräuchliche Inhalte entfernen und Wiederholungsrisiken minimieren, ohne legale Sexarbeit pauschal zu kriminalisieren.
- Transparenz: Jahresberichte, Angaben zu Moderationslogiken, Offenlegung von Empfehlungs- und Ranking-Systemen; damit entsteht prüf- und justiziable Governance (Flink; Mader).
- Grundrechtsbalance: Der DSA fasst Plattformpflichten als Schutzregime auf (Würde, Minderjährige, Menschenhandel), ohne die kommunikativen und beruflichen Freiheiten der Anbieter*innen abzuschneiden.
Die Praxisrelevanz: Digitale Intimitätsplattformen können legal operieren, wenn sie Risiko- und Beschwerdesysteme beherrschen, Minderjährige wirksam ausschließen, Ausbeutung aktiv bekämpfen und Transparenz leisten. Der DSA ist kein Sexualstrafrecht, sondern ein Infrastrukturrrecht – und gerade deshalb tragfähig für Grenzbereiche wie Sexarbeit.
3 USA – SESTA-FOSTA: Strafrecht als Plattformregime
Mit SESTA-FOSTA (2018) schalteten die USA einen anderen Gang: Plattformen haften, wenn sie wissentlich Inhalte „fördern“, die mit Sexhandel zusammenhängen. Die Folge war die präventive Abschaltung ganzer Segmente (Foren, Kleinanzeigen, Begleitportale), um Strafbarkeitsrisiken zu vermeiden. Die Kritik: Legale Sexarbeiter*innen wurden de-plattformt und in offline-Milieus gedrängt, wo Schutz, Dokumentation und Exit-Optionen schwächer sind (Rieks). SESTA-FOSTA entlastet die Strafverfolgung, erzeugt aber Sicherheits- und Gesundheitsrisiken für die Betroffenen.
Juristisch problematisch sind Chilling Effects: Aus Angst vor Haftung entfernen Plattformen grenzlegale Inhalte und Accounts, auch wenn kein Sexhandel vorliegt. Dadurch werden Erwerbsfreiheit und freie Rede mittelbar eingeschränkt. SESTA-FOSTA beantwortet die Missbrauchsfrage mit Generalsanktionen – effektiv, aber unpräzise.
4 Deutschland – ProstSchG, Strafnormen, allgemeine Plattformpflichten: ein Flickenteppich
Deutschland kennt mit dem ProstSchG ein Rahmenwerk für Registrierung, Beratung, Gesundheits- und Betriebspflichten. Es ist auf analoge Sexarbeit zugeschnitten, nicht auf digitale. Plattformarbeit wird arbeits- und sozialrechtlich nur mittelbar erfasst.
- Arbeitsrecht: Die EU-Platform Work Directive enthält eine Beschäftigungsvermutung bei algorithmischer Steuerung. Deutschland hat diese spezifisch für die Sexarbeit (noch) nicht abgebildet. Ergebnis: Scheinselbstständigkeit bleibt unklar, Statusfeststellung ist Einzelfallarbeit (Flink; Mader).
- Strafrecht: Bei aktiver Förderung oder wirtschaftlicher Kontrolle droht § 181a StGB (Zuhälterei/Förderung). Die Norm ist technikneutral, ihre digitale Anwendung bleibt jedoch auslegungs- und beweislastintensiv.
- Plattformhaftung: Jenseits allgemeiner TMG/DSA-Pflichten fehlen sektorale Governance-Vorgaben (z. B. verpflichtende Risiko-Reports, Exploit-Response, Opfer-Mechanismen) speziell für Intimitätsplattformen.
Im Ergebnis: Deutschland ist weniger restriktiv als die USA (keine pauschale Kriminalisierung), bietet aber weniger Schutz- und Statussicherheit als der DSA-Ansatz – gerade für Menschen, die über Plattformen arbeiten (Howe; Lörler).
5 Drei Achsen des Vergleichs – Haftung, Arbeit, soziale Absicherung
5.1 Plattformhaftung & Inhaltsgovernance
- DSA (EU): Sorgfaltspflichten, Transparenz, Audits – ein steuerbares Risikorecht.
- SESTA-FOSTA (USA): Strafrechtlicher Haftungsdruck → Overblocking, De-Plattformung.
- Deutschland: Anwendung allgemeiner Regeln (DSA/TMG, Strafrecht), kein sektorales Leitbild für digitale Sexarbeit → Governance-Lücke.
Konsequenz: Deutschland sollte den DSA-Werkzeugkasten gezielt auf Intimitätsplattformen anwenden (Risikoberichte, Audits, algorithmische Transparenz), um Overblocking zu vermeiden und Opferschutz zu professionalisieren.
5.2 Arbeitsrecht & Status
- EU: Platform Work Directive → Beschäftigungsvermutung bei algorithmischer Kontrolle (Flink; Mader).
- USA: Arbeitsstatus bleibt bundesstaatlich fragmentiert; das SESTA-FOSTA-Regime sagt dazu nichts.
- Deutschland: § 611a BGB + DRV-Statusfeststellung – Einzelfall statt System. Gerade in der Intimitätsökonomie führt das zu Rechtsunsicherheit, fehlendem Mindestlohn-, Urlaubs- und Kündigungsschutz.
Konsequenz: Einführung einer klaren Vermutung der Beschäftigung bei Plattformsteuerung (Ranking, Sperren, Monetarisierung) – auch für digitale Sexarbeit.
5.3 Soziale Absicherung & Steuertransparenz
- EU/DAC7: Meldepflichten für Plattformen – sichtbare Einkommen, Grundlage für Sozial- und Steuerzugriff (Flink; Mader).
- USA: 1099-Logik – Plattformzahlungen werden steuerlich sichtbar, ohne arbeitsrechtliches Schutzregime.
- Deutschland: DAC7-Umsetzung vorhanden, aber Schnittstelle zur Sozialversicherung und Künstlersozialkasse bei digitaler Sexarbeit bleibt unterentwickelt.
Konsequenz: Automatisierte Datenbrücken zwischen DAC7-Meldungen und Sozialversicherung (Status-Screening) – Schutz statt Sanktionierung im Blindflug.
6 EMRK-Perspektive – zwischen Schutzpflicht und Kommunikationsfreiheit
Die EMRK zwingt zur Balance: Art. 8 schützt Privat- und Familienleben, Art. 10 die Meinungs- und Kommunikationsfreiheit. Ein Regime, das – wie SESTA-FOSTA – aus Haftungsfurcht legale Inhalte verdrängt, kollidiert mit Art. 10. Ein Regime ohne effektive Schutzmechanismen gegen Ausbeutung kollidiert mit Art. 8. Der DSA-Mittelweg ist hier grundrechtsrobust, weil er pflichtenbasiert steuert, statt Inhalte pauschal zu verbieten.
7 Deutschland im Rückstand – fünf konkret messbare Lücken
- Sektorale Plattform-Governance: Keine verpflichtenden Risiko- und Transparenzberichte für Intimitätsplattformen; DSA-Pflichten werden nicht branchenspezifisch operationalisiert.
- Arbeitsrechtliche Vermutung: Keine gesetzliche Vermutung der Beschäftigung bei algorithmischer Steuerung – Statusfeststellung bleibt ressourcenintensiv, unsicher und ex post.
- Opferschutz & Exit-Mechanismen: Kein kodifiziertes Pflichtprogramm für Plattformen (schnelle Sperrung von Tätern, Daten-/Bildlöschung, Beweissicherung, Trauma-Safeguards).
- Sozialversicherungs-Integration: Keine automatisierte Schnittstelle DAC7 → SV-Systeme; fehlende Klarheit zur KSK-Zugehörigkeit bei digitalen Kreativ-/Erotikleistungen.
- Strafrechtliche Präzisierung: § 181a StGB erfasst digitale Ausbeutung dogmatisch, aber es fehlt eine klarstellende Anwendungshilfe für algorithmische Kontrolle, Provisionsmodelle und Ranking-Sanktionen.
8 Reformvorschläge – ein kohärentes deutsches Modell
(A) Plattformpflichten nach DSA-Vorbild sektoral konkretisieren
– jährliche Risiko- & Transparenzberichte,
– Algorithmus-Transparenz (Ranking, De-Ranking),
– Opferschutz-Kernstandard (Notice-and-Takedown, Eilmeldungen, Löschungen, Beweissicherung).
(B) Arbeitsrechtliche Beschäftigungsvermutung bei algorithmischer Steuerung
– Umkehr der Beweislast; Statusfeststellung ex ante,
– Mindestlohn, Urlaub, Arbeitszeit, Kündigungsschutz für erfasste Tätigkeiten.
(C) Sozial- und Steuerdaten verknüpfen (Privacy-by-Design)
– DAC7 → SV Screening mit Datenschutz-Safeguards;
– klarer Leitfaden zur KSK-Zugehörigkeit bei digitaler Kreativ-Erotik.
(D) Strafrechtliche Anwendungshilfe zu § 181a StGB
– digitale Ausbeutungstatbestände (Provisionslogik, Rankingkontrolle) als Leitkriterien,
– Verzahnung mit DSA-Pflichten (unterlassene Risikomitigierung als Indiz).
(E) Keine SESTA-FOSTA-Importe
– kein Overblocking, sondern pflichtenbasierte Governance; Grundrechtsbalance wahren.
9 Fazit – Regulieren ohne zu zerstören
SESTA-FOSTA zeigt die Risiken strafrechtsgetriebener Plattformpolitik: Sichtbare Härte, unsichtbare Schäden. Der DSA zeigt, wie man reguliert, ohne Märkte zu vernichten – mit Pflichten, Audits, Transparenz. Deutschland braucht nicht mehr Strafrecht, sondern kohärente Integration: Arbeits-, Sozial-, Steuer- und Plattformrecht müssen für digitale Sexarbeit gemeinsam greifen. Dann entsteht, was der Markt nicht schafft: Sicherheit ohne Zensur, Selbstbestimmung ohne Ausbeutung.
Recht ist nicht die Bremse der Digitalisierung, sondern ihre ethische Architektur.
Fundstellen
- Flink, Plattformarbeit – Was gilt und worauf müssen Arbeitgeber achten?, B+P 2025, 19–23.
- Mader, EU-Richtlinie für Plattformarbeit und Lohnsteuer, B+P 2025, 41–42.
- Rieks, „Schöne neue (Arbeits-)Welt“ oder signifikantes Strafbarkeitsrisiko für die Shared Economy?, wistra 2020, 49–55.
- Howe, Prostitution – Sex-Arbeit, Arbeitsausbeutung, Menschenhandel oder kommerzialisierte Vergewaltigung?, Vorgänge 2015, Nr. 4, 60–81.
- Lörler, Entwurf eines Prostitutionsregulierungsgesetzes, NJ 2015, 415–417.
🩸 Beiträge im Überblick
1️⃣ Digitale Prostitution und Plattformhaftung – rechtliche Grauzonen im Netz
Wie Plattformen rechtliche Verantwortlichkeiten verschieben und wann Moderation zur Beihilfe wird.
2️⃣ AI-Avatare und virtuelle Sexarbeit – zwischen Kunstfreiheit und Pornografiegesetz
Künstliche Identitäten, Deepfakes und die Frage, ob virtuelle Erotik Kunst oder Sexarbeit ist.
3️⃣ OnlyFans, FanCentro & Co. – steuerliche Behandlung digitaler Sexarbeit
Wie Einnahmen aus digitaler Intimität steuerlich einzuordnen sind – von Einkommensteuer bis Umsatzsteuer.
4️⃣ Datenschutz und Intimsphäre – Art. 9 DSGVO als Schutzschild oder Feigenblatt?
Wenn intime Daten zum Geschäftsmodell werden – Grenzen des Datenschutzes in der Sexarbeit.
5️⃣ Digitale Prostitution vs. Love Scamming – Täuschung, Einwilligung und Ausnutzung
Wie emotionale Manipulation ökonomische Abhängigkeit schafft – und wann Strafbarkeit beginnt.
6️⃣ Plattformökonomie und Arbeitsrecht – Scheinselbstständigkeit im Erotiksektor
Selbstständigkeit oder abhängige Beschäftigung? Arbeitsrechtliche Grenzen digitaler Sexarbeit.
7️⃣ Strafrechtliche Verantwortung – von der Förderung zur digitalen Zuhälterei
§ 181a StGB im Zeitalter der Plattformökonomie: Wer trägt strafrechtliche Verantwortung?
8️⃣ Digitale Prostitution im internationalen Kontext – Regulierung in EU, USA, Asien
Rechtsvergleich zwischen Liberalisierung, Plattformverbot und digitaler Überwachung.
9️⃣ Digitale Sexarbeit und Steuerfahndung – Geldwäsche und Krypto-Zahlungen
Wie Finanzbehörden digitale Einnahmen nachvollziehen – und wann der Verdacht auf Geldwäsche entsteht.
🔟 Digitale Prostitution als Schattenmarkt – Kontrollverlust des Staates
Warum bestehende Gesetze an der digitalen Realität scheitern – und welche Reformen nötig sind.
🔹 Cluster II – Sugar-Dating & Sugar-Babe-Prostitution
Juristische Analysen zur rechtlichen Einordnung von Sugar-Arrangements, Datenschutz, Steuerrecht und Strafbarkeit.
Diese Serie untersucht die Grauzone zwischen Beziehung und entgeltlicher Leistung – von emotionaler Abhängigkeit bis Plattformhaftung.
💎 Beiträge im Überblick
1️⃣ Sugar-Daddy-Plattformen und rechtliche Bewertung – Zwischen Beziehung und Bezahlung
Wie digitale Plattformen Beziehungen monetarisieren – und wo das Zivilrecht Grenzen zieht.
2️⃣ Vertrag oder Täuschung? – Zivilrechtliche Einordnung von Sugar-Arrangements
Zwischen Einvernehmen und Irreführung – wann eine Beziehung zur vertraglichen Leistung wird.
3️⃣ Steuerrechtliche Bewertung – Liebesbeziehung oder gewerbliche Tätigkeit?
Wie Finanzämter Sugar-Arrangements einordnen – und welche steuerstrafrechtlichen Risiken bestehen.
4️⃣ Datenschutz und Intimsphäre – Art. 9 DSGVO bei Sugar-Daddy-Daten
Intime Informationen als Risikofaktor – Datenschutzrechtliche Grenzen der Vermittlungsportale.
5️⃣ Täuschung, Abhängigkeit und Nötigung – Strafbarkeit digitaler Sugar-Beziehungen
Wann emotionale und ökonomische Abhängigkeit zur Strafbarkeit führt.
6️⃣ Plattformhaftung und Vermittlungsverantwortung – digitale Zuhälterei 2.0
Grenzen der Betreiberhaftung nach § 181a StGB im digitalen Raum.
7️⃣ Finanzielle Abhängigkeit und emotionale Erpressung – Sugar-Babe als Opferstruktur
Wie Abhängigkeit systematisch entsteht – und welche Rechtsfolgen sie auslöst.
8️⃣ Arbeitsrechtliche Einordnung – Beschäftigung, Selbstständigkeit oder Schutzlücke?
Wann Sugar-Beziehungen arbeitsrechtlich relevant werden – eine Analyse nach § 611a BGB.
9️⃣ Internationale Dimension – Regulierung digitaler Sugar-Dating-Portale
Wie EU und USA unterschiedlich reagieren – und wo Deutschland steht.
🔟 Gesellschaftliche und rechtspolitische Bewertung – Sugar-Dating als Normalisierung digitaler Abhängigkeit
Warum Sugar-Dating mehr ist als ein Beziehungsphänomen – und was es über digitale Machtverhältnisse verrät.